Einführung

"The entrance to the soul is the eye"

Mittwoch, 29. Dezember 2010

(5) Liebes Tagebuch

Liebes Tagebuch
12.3.2001: Heute war mein 9. Geburtstag. Ich bekam dieses Tagebuch, eine Polly Pocket Spiele-Sammlung, ein Buch und noch vieles mehr. Das Buch hat mir sehr gefallen. Leider ist es schon wieder leer. Mein Bruder sagt, ich bin ein Frik, weil ich keine Fehler beim Schreiben mache. Ich sage er ist dumm. Mir gefällt zwar das Tagebuch, aber ich mag keine pinken Pferde, so wie die auf dem Einband. Musste aber so tun als würde es mir gefallen. Sonst ist Mum traurig. Das Tagebuch ist eigentlich eine sehr gute Idee. Ich denke nämlich zu viel. Hat mein Bruder gesagt. Und komische Sachen. Er sagt das ist nicht normal für mein Alter. Das All interessiert in nicht mal jetzt. Also darf es mich auch nicht interessieren, aber das versteh ich nicht richtig. Meine Freundin Lynn war vorhin da. Sie hat schon einen Laptop. Ich kenne mich mit sowas nicht aus. Sie gibt immer damit an. Mein Lieblings-Onkel war heute auch da. Eddie. Er ist erst 25,aber mein Onkel und er ist lustig, macht mit mir immer Späße und verdreht die Augen wenn die anderen Erwachsenen ihn schimpfen. Und wenn ich traurig bin, dann macht er Grimassen oder erzählt mir schöne Geschichten. Aber manchmal habe ich Angst vor ihm. Denn ich kann in seinen Kopf schaun. Das kann ich nicht immer, aber manchmal funktioniert es. Und dann kann ich nicht mehr aufhören und höre komische Sachen und sehe schreckliche Sachen. Mein Bruder sagt ich denk mir das nur aus und ich spinne und wenn sie das erfahrn, muss ich weg. Aber wo soll ich denn hin? Möchte bei Mum und Paps bleiben. Morgen hat mein Bruder Geburtstag. Dann kommt Eddie wieder. Und ich hoffe mein drittes Auge schläft (so nennt mein Bruder es).

Zwischen den Seiten klemmte ein einzelnes Foto. Ein rothaariger Mann mit Sommersprossen. Das musste Onkel Eddie sein. Auf der Rückseite fand ich Bestätigung mit ein paar hingekritzelten Worten (die ich erst viel später verstehen sollte) der älteren Emma:

Eddie- Meine Zuflucht und Alptraum

Onkel Eddie am 12.3.2001





(4) Emmas Tagebuch



Nichts hat mich je so beschäftigt wie dieses Tagebuch.
Weiße Seiten. Schwarze Tinte. Ein kleines, dünnes Bändchen als Lesezeichen. Chaos.
Manche Stellen waren unlesbar. Manche waren so schockierend, dass ich sie ausließ.
Schrecklich. Schon der Anfang verriet mir, dass es ein besonderes Tagebuch werden würde:

Gedanken kann man nicht aufschreiben.
Die Wahrheit schon.


(3) Ein Brief von Emma

Nach Emmas Verschwinden verging die Zeit so langsam, dass man meinen konnte, die Erde sei still gestanden. Doch ich stand keineswegs still. In der ersten Woche lief ich so lange bis ich halb Heartsdale abgesucht hatte. Die andere Hälfte konnte ich ausschließen, weil Emma niemals dorthin gegangen wäre. Das wusste ich einfach.
In der zweiten Woche telefonierte ich solange bis meine Ohren klingelten und ich die Stimme am anderen Ende des Hörers nicht mehr hören konnte. In der dritten Woche suchte ich ihr Haus, also ihr Zimmer ab. In diesem Moment war mir ihre Privatsphäre scheißegal. Vielleicht, dachte ich, ist sie gar nicht mehr am leben. Dann stört sie das sowieso nicht mehr. Und so wühlte ich blind in ihren Sachen und übersah doch nichts. Ihr Zimmer war so penibel aufgeräumt, dass ich gar nicht glauben konnte dass es wirklich Emmas Zimmer war. Und da entdeckte ich sie: Die kleine Schublade im Schrank. Sie war als Einzigstes verschlossen. Gerade als ich mich entschlossen hatte mit einer Axt die Schublade zu zerschmettern, denn so verzweifelt war ich, kam ihr Vater durch die Tür. Er schickte mich nach Hause und in seinen Augen erkannte ich, dass er viel mehr vor mir Angst hatte, als um die Gewissheit dass seine einzige Tochter nie mehr zurückkehren könnte. In der vierten Woche gab ich sie auf. Ich gab Emma und mich auf. Jetzt wo sie weg war, spürte ich wie sehr ich sie schon immer gebraucht hatte. Ich verbarrikadierte mich in meinem Zimmer und kam nur gelegentlich heraus, um zu Essen, aufs Klo zu gehen oder die Post hereinzuholen. Am letzten Tag der vierten Woche bekam ich die Nachricht. Ein Brief von Emma. Er war schneeweiß und fast quadratisch. Am Verschluss war ein schwarzes Herz mit Bleistift gemalt. Es sah aus, als hätte Emma wenig Zeit dafür gehabt und so wirkte der Rest des Briefes auch:

Hey Smiley

Ich weiß, ich enttäusche dich. Das ist nicht meine Art!
Ist doch eh alles Hier ist meine Kette.
Du kennst sie, hatte sie immer an. 
An ihr hängt ein Schlüssel. Du hast sicher schon mein Zimmer zerwühlt 
und falls du noch nicht mit der Axt die Schublade zertrümmert hast, 
dann kannst du ihn benutzen. Aber geh rein wenn mein Vater arbeitet. 
Er feiert bestEr wird versuchen zu tun, als wäre ich noch da. 
Naja wahrscheinlich warst du eh schon bei mir und hast ihn getroffen. 
Du hattest noch nie gutes Timing...
Also ic Ich liebe dich 
(du weißt ja wie ichs mein :-) )

Your little coffee bean ♥

P.S.: Steiger dich nicht zu sehr rein, okey? Lebe weiter Machs gut!


Ich steigerte mich rein.
Ich kam nicht mehr aus dem Zimmer raus, (Natürlich, wenn ich essen musste griff ich zum Telefon oder zur Pfanne) bis ich dieses gotterdammte Tagebuch gelesen hatte. Und dies dauerte fast einen Monat.

(2) Wie weit?

Was muss geschehen?

Wie weit muss man gehen um einen Menschen am Leben zweifeln zu lassen?

Nun ja, manchmal weit, sehr weit. Denn manche Menschen haben ein dickes Fell.
Alte Menschen haben viel Erfahrung und lassen sich nicht leicht unterkriegen.
Babys verstehen Drohungen oder Boshaften noch nicht.
Kinder weinen und haben es bald wieder vergessen.
Teenager haben nichts von diesen Leuten.
Keine Erfahrungen oder Alter.
Nur zu viele Hormone.

Emma ist ein Teenager. Von unten bis oben.
Dies erkennt man nicht nur an ihren vereinzelten Pickeln im Gesicht oder an den Augenringen wegen des langen Aufbleibens. Auch an ihrer vorlauten Haltung gegenüber Älteren, Erziehern und Eltern, auch an ihren Gefühlsausbrüchen, die an eine Berg und Tal Fahrt erinnern. Im einen Moment könnte sie nach den Sternen greifen und im nächsten fällt sie in ein bodenloses Loch. Leider fällt sie meistens. In einem Leben kann viel schiefgehen. Doch man kann alles meistern. Nur Leute, die lernen mit dem Pech, das wie ein Kaugummi an ihren Sohlen klebt, umzugehen. Die Meisten zerbrechen daran. Doch ich wage zu behaupten, dass Emma ein robustes Mädchen durch und durch, nicht nur einen Kaugummi an der Sohle hatte. Nein. Viel mehr Scherben auf der nackten Fußsohle. Wer schuld daran ist? Wahrscheinlich sie allein. Doch das ist Ansichtssache. Emma weiß es bestimmt. Und falls sie es doch vergisst, dann geht sie mit schwerfälligen Schritten auf den Schrank gegenüber ihrem Bett zu und zieht einen Schlüssel aus der Kette um ihren zarten Hals und steckt ihn in ein Schlüsselloch, das zu einer kleinen Schublade im inneren des Schrankes gehört. In der Schublade befindet sich ein pechschwarzes Kästchen mit einem schweren Schloss davor. Wo sie diesen Schlüssel aufbewahrt, dass weiß nicht mal ich. Aber was in dem Kästchen ist, das weiß ich als Einzige. Ihr Tagebuch.
Schon im jungen Alter hat sie angefangen reinzuschreiben. Und als bald kein Platz mehr war weigerte sie sich ein Neues zu kaufen. Doch sie wusste sich zu helfen: Sie löste vorsichtig den Einband ab und band es neu mit mehr Seiten ein und erneuerte den Einband. Dies machte sie ab da jedes Jahr, oder wann immer sie einen Wechsel brauchte. Sie hat es gehütet wie einen Schatz, doch das ist jetzt vorbei. Zwei Monate sind jetzt schon seit ihrem Verschwinden vergangen.

Mittwoch, 22. Dezember 2010

(1) Es ist Zeit.

Zeit.
Es ist.
Zeit für eine Geschichte.
Nicht nur irgendeine.
Jene, die von einem Mädchen erzählt.
Oder auch nicht.
Meine, nein, deine Geschichte.
Noch ist ihr Bild unklar. Schwebt zwischen Realität und Vorstellung.
Noch nicht aneinander gereihte Puzzleteile.
Puzzle-Teile.
Was für ein geeignetes Wort.
Sie ist nämlich facettenreich musst du wissen. Gleicht niemand, verhält sich wie jede andere.
Wie das zusammenpasst? Gar nicht!
Aber ich schweife ab...
 Man stelle sich ein Mädchen vor. So. Ende.
Doch so einfach ist das dann doch nicht, nicht wahr? Ich könnte wetten, kein Mensch auf dieser Erde stellt sich genau das gleiche Mädchen vor. Formen und Farbe sind grundlegend unterschiedlich. Doch ich will es nicht so spannend machen....obwohl, sind Form und Farbe denn überhaupt ausschlaggebend? Ist es für ein Mädchen wichtig, für ihr Leben wichtig, wie es sich zu einem anderen Mädchen unterscheidet? Hübscher, Größer, Intelligenter, Schlanker, Sportlicher, wie auch immer? Nein! Doch. Natürlich. Wo käme man hin, wenn sich niemand um sein Aussehen scheren würde. Doch das Aussehen, das Make-Up mein ich gar nicht. Wovon ich rede ist die naturelle Person. Wie Gott sie geschaffen hat, oder Allah oder wer auch immer.
"Ein Gesicht empfinden wir als hübsch, wenn es symmetrisch ist."
Ein kluger Psychologe hat diesen Satz einmal gesprochen, und wie es meist der Fall ist, wenn ein kluger Mensch etwas ausspricht, hat jemand es aufgeschrieben. In diesem Fall verwende ich es als Zitat. Zitate sind wunderbar. Man kann mit ihnen etwas ausdrücken. Auch kann man mit ihnen Gedanken anregen. Zitate sind verzweifelnd, sie klauen einem die Gedanken. Man stelle sich vor, man habe die Erleuchtung. Plötzlich wird es dir klar und das wunderbarste ist: Du kannst es in Worte fassen, es ausformulieren. Nun trägst du es jemand anderem vor. Und dieser kennt es. Ein Zitat. Du hast es geklaut. Schrecklich.... Aber ich schweife ab.
Um endlich auf den Punkt zu kommen: Eine Geschichte ist da um erzählt zu werden. Ich nehme es mir zur Aufgabe dir diese Geschichte zu erzählen. Wenn du sie nicht hören willst, dann tu es nicht. Doch Geschichten haben noch eine Eigenschaft. Sie wird gehört. Punkt.